Im Reich der hungrigen Geister – Muslime und Drogen

Luqman Mueller

Über Sucht, Trauma und menschliche Abgründe – Muslime und Drogen

Einblicke von Luqman Müller

Muslime und Drogen. Es war ein kalter, dunkler Abend im November, als ich mit ihm auf dem Gehweg saß. Ich hatte gerade bei Netto noch ein paar Brötchen und etwas Orangensaft geholt, damit er überhaupt etwas aß. Ich wusste nicht, wann er das letzte Mal etwas Festes zu sich genommen hatte. Kurz davor hatte ich ihn aus seiner Drogenhölle abgeholt, wo sie seit Tagen unentwegt konsumiert hatten. An diesem Abend haben wir dann gesprochen, und er war dabei außerordentlich klar und bei sich. Er berichtete aus seiner Kindheit: die Schläge, die Verachtung, die Gewalt. Dann berichtete er von seinen ersten Konsumerfahrungen. Ein Satz hat mir Gänsehaut bereitet. Dieser ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war das Gefühl, von dem er berichtete, bei seinem ersten Mal Heroin. Es war dieses Gefühl, welches sich wie eine „lange, sanfte Umarmung“ angefühlt hatte. Dieses Gefühl, im Leben das allererste Mal wirkliche Liebe und Verbindung zu spüren. Als ich das hörte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, während ich ihn dort sitzen sah. Ein junger Mann, gerade erst Anfang zwanzig, aber durch seinen Konsum bereits gezeichnet wie ein Achtzigjähriger. Lange, ungepflegte Haare, eingefallene Mund- und Augenpartien, hängende, dünne Schultern. Ich stieß ein Bittgebet aus und dankte dem Herrn der Welten, dass ich nie dieses Zeug probiert hatte. Ich bin mir sicher, dass ich auch darauf hängengeblieben wäre.

In den sieben Jahren, in denen ich als Streetworker schwer abhängige junge Menschen begleitet habe, deren Lebensmittelpunkt auf der Straße war, habe ich genug menschliche Abgründe erlebt, die für eine ganze Lebenszeit ausreichen. Auffällig war dabei, dass diejenigen, die die schwersten Abhängigkeiten entwickelt hatten, dieselben waren, die die schwersten Traumatisierungen erlebt hatten.

„Im Reich der hungrigen Geister“ ist der Titel eines Bestsellers von Dr. Gabor Maté, einem renommierten und umstrittenen kanadischen Suchtexperten. Maté widerspricht in seinen Werken gängigen Annahmen über Sucht und abhängiges Verhalten. Sucht ist weder ein moralisches Fehlverhalten willensschwacher Menschen noch einfach eine Krankheit, die einer genetischen Disposition zugrunde liegt.

Sucht ist vielmehr ein komplexes Problem, das weltweit Millionen Menschen betrifft. Sind Muslime von Sucht betroffen, haben sie noch viel mehr mit Sucht zu kämpfen. Schließlich ist der Islam die Religion, die am konsequentesten Alkohol und andere Suchtmittel verboten hat. Also ist das Tabu und die Stigmatisierung in muslimischen Communities besonders stark ausgeprägt.

Kindheitstrauma, Schmerz und die innere Entfremdung – Muslime und Drogen

Dr. Gabor Maté betont, dass ungelöstes und unbewusstes Kindheitstrauma sowie tief verwurzelter emotionaler Schmerz oft die Wurzeln der Sucht sind. Viele Menschen haben kein Bewusstsein über die innere Entfremdung, die aufgrund eines frühen Mangels an bedeutungsvollen Beziehungen zu emotional verfügbaren erwachsenen Bezugspersonen entstanden ist.

Dieses subtile Gefühl der Isolation und weitere gesellschaftliche und kulturelle Faktoren lassen viele Menschen zu Substanzen oder süchtig machenden Verhaltensweisen greifen, um diesem quälenden Gefühl der Leere und des Schmerzes zu entkommen.

Chronischer Stress und maladaptive Bewältigungsmechanismen sind bedeutende Faktoren für die Entwicklung von Sucht. Menschen nutzen oft Substanzen, um Stress abzubauen, sich zeitweise auszuklinken oder um schwierige Emotionen zu bewältigen.

Dr. Gordon Neufeld, ein kanadischer Psychologe und Experte für kindliche Entwicklung, betont, dass stabile und sichere Bindungen in der Kindheit von entscheidender Bedeutung für die gesunde Entwicklung sind. Ein Mangel an sicheren Bindungen kann zu emotionaler Verwundbarkeit und einem höheren Risiko für Sucht führen. Wenn Kinder keine sicheren Bindungen zu ihren Bezugspersonen entwickeln, können sie Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu regulieren. Dieses Defizit kann dazu führen, dass sie sich Substanzen zuwenden, um emotionalen Schmerz zu bewältigen. Neufeld betont die Notwendigkeit, emotionale Bindungen wiederherzustellen und zu stärken, um Menschen auf dem Weg zur Suchtüberwindung zu unterstützen. Eine starke emotionale Verbindung kann als Schutzfaktor gegen Sucht dienen.

Wenn man die Betroffenenperspektive berücksichtigt, verschiebt sich auch das gesamte Bild, das wir uns von abhängigen Menschen gemacht haben. Denn die Sehnsucht nach Liebe und Verbindung ist sicherlich als Teil der Fitra in jedem Menschen verankert. Somit wird ein Verurteilen dieses Menschen verunmöglicht und ein barmherziger Blick macht Mitgefühl wieder möglich.

In meiner praktischen Tätigkeit fiel mir auf, wie insbesondere jene Betroffene mit muslimischem Hintergrund es besonders schwer hatten, aus dieser teuflischen Suchtspirale zu entkommen. Sie waren oftmals von ihren Herkunftsfamilien und ihren Gemeinden verstoßen und ihrem eigenen Schicksal überlassen worden, geplagt und gelähmt von immensen Schuld- und Schamgefühlen. Ihr Gesamtzustand war dementsprechend überaus schlecht. Diese Beobachtungen und das Erleben dieser Schicksale waren der Anstoß, mir Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus der Community zu suchen, um gemeinsam mit unseren wenigen Mitteln eine Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige zu gründen.

Eine unserer Hauptaufgaben besteht darin, die Weisheiten und Perlen unserer Tradition zusammenzutragen und für die Betroffenen aufzubereiten. So hat ein Mitglied unseres Teams, Harun Jameel, das kleine Büchlein „Weisheiten für Suchtbetroffene: aus den Worten des sanftmütigen Gesandten“ veröffentlicht. Dort werden etwa dreißig Hadithe, aus denen Lehren für Süchtige aller Art abgeleitet werden können, kommentiert und mit eigenen Erfahrungen und relevanten Informationen versehen.

Erwähnt seien hier noch kurz die Arbeiten von Dr. Laleh Bakhtiar, einer iranisch-amerikanischen Psychologin, die bahnbrechende Arbeiten zur moralischen Heilung durch das Konzept des „Futuwwa“ (Brüderlichkeit/Ritterlichkeit) veröffentlicht hat. Bakhtiars Lehren zur koranischen Psychologie und moralischen Heilung bieten einen Weg zur Genesung, der das Verständnis und die Transformation des Selbst umfasst. Spirituelle Praktiken, Selbstreflexion und moralische Entwicklung können Menschen helfen, süchtige Verhaltensweisen zu überwinden.

Eine weitere Aufgabe besteht darin, Betroffenen eine Plattform zu geben, um sichtbar zu werden und sich gegenseitig Trost, Hoffnung und Zuversicht zuzusprechen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Isolation, die Mauer des Schweigens und der toxischen Scham zu durchbrechen, die man sich als Betroffener mit der Zeit aufbaut. Zusätzlich arbeiten wir mit den Familien, denn Sucht betrifft immer die gesamte Familie. Schließlich ist co-abhängiges Verhalten der einzelnen Familienmitglieder oftmals der Schlüssel zur Aufrechterhaltung abhängiger Familiensysteme und -konstellationen.

Al Mudmin arbeitet daran, einen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln, der sichere Bindungen, emotionale Heilung und spirituelle Praktiken umfasst. Dieser Ansatz kann effektiv sein, um Sucht zu verhindern und zu behandeln. Durch die Förderung starker, unterstützender Beziehungen und die Auseinandersetzung mit den tieferen emotionalen und spirituellen Aspekten der Sucht können Menschen eine dauerhafte Genesung erreichen. Auf diesem Weg sind wir auf die Unterstützung der Ummah angewiesen. Die Not unserer Geschwister beginnt nicht erst in fernen Ländern, sondern direkt vor unserer Nase.

Sind wir bereit, nicht mehr die Augen vor ihr zu verschließen?

Das Projekt „Al Mudmin“ ist unter almudmin.de oder auf Instagram: almudmin_ erreichbar und unter https://commonsplace.de/project/almudmin kann man das Projekt finanziell unterstützen!

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